Die interpretatio romana/graeca/indigena ist ein wichtiger Mechanismus zur Überwindung kultureller Unterschiede in der Antike. Man versteht darunter einen Prozess der Assoziation von indigenen Gottheiten mit griechisch-römischen ("indigen" meint dabei alle nicht griechisch-römischen Gottheiten in Italien und den Provinzen). Obwohl es sich um ein grundlegendes kulturell-religiöses Phänomen in der globalisierenden Welt der Antike handelt, ist es in der Forschung bislang nur sehr oberflächlich untersucht worden. Wesentliches Anliegen der geplanten Konferenz ist es, statt wie bisher hauptsächlich geschehen Listen griechisch-römischer Götternamen und ihrer vermutlichen indigenen Entsprechungen zusammenzustellen, die tiefgreifenderen Prozesse des Phänomens zu thematisieren. Aufgrund der enormen kulturellen Unterschiede in der griechisch-römischen Welt gibt es keine eindeutigen Entsprechungen in der Identifizierung von Gottheiten. Die Benutzung eines griechischen oder lateinischen Götternamens oder einer griechisch-römischen Götterdarstellung durch die lokalen Eliten kann im Gegenteil nur als erster Schritt gewertet werden, durch den sich längerfristig auch die Eigenschaften lokaler Gottheiten signifikant veränderten und neue Kulte und Göttervorstellungen entwickelt wurden.
Das Hauptaugenmerk der Osnabrücker Konferenz liegt auf der Sichtweise der indigenen Bevölkerung. Deren interpretationes indigenae der griechisch-römischen Kulte und Mythen müssen im Kontext der globalen Welt des Römischen Reiches, insbesondere auch als Partikularisierung - als deutlicher Ausdruck einer lokalen Identität - verstanden werden. Die Konferenz ist interdisziplinär angelegt und begreift sich als Forum für ausgewiesene Historiker, Archäologen, Epigraphiker, Linguisten, Religionswissenschaftler und Anthropologen. Ziel ist es sich zwei Tage intensiv über regionale Besonderheiten im Westen und Osten des Römischen Reiches anhand der epigraphischen, archäologischen, ikonographischen und linguistischen Quellen auszutauschen, um disparates Wissen zu bündeln und unser Verständnis religiöser Entwicklungen entscheidend zu schärfen. Neben der indigenen Sichtweise versprechen sich die Organisatoren von einem komparativen Ansatz, der sowohl Italien, die Westprovinzen und die östliche Mittelmeerwelt mit einbezieht, eine grundlegende Neuorientierung unserer Methodologie unter Berücksichtigung kulturanthropologischer und religionswissenschaftlicher Modelle.
apud Naharvalos antiquae religionis lucus ostenditur. praesidet sacerdos muliebri ornatu, sed deos interpretatione Romana Castorem Pollucemque memorant. ea vis numini, nomen Alcis. nulla simulacra, nullum peregrinae superstitionis vestigium; ut fratres tamen, ut iuvenes venerantur (Tac. Germ. 43, 4-5).
In seiner Germania verwendet Tacitus den Begriff der interpretatio romana bei seiner Identifizierung der Alcis - dem göttlichen Bruderpaar der germanischen Naharvali - als Castor und Pollux. Analog benennt Caesar gallische Götter als Mercur, Mars, Jupiter, Apollo und Minerva (B.G. 6, 17). Diese Beispiele zeigen schon die Probleme des Begriffs interpretatio, die auf dieser Konferenz durch eine interdisziplinäre und kontextuelle Analyse - vor allem auch im überregionalen Ost-West-Vergleich - untersucht werden sollen. Nur selten ist die interpretatio eine Übersetzung eines Götternamens. Es handelt sich meist um eine "Identifizierung" zweier göttlicher Konzeptionen von sprachlich, religiöser und ethnisch unterschiedlicher Abstammung. Himmels- und Donnergötter, wie Zeus, Jupiter, Taranis, Teššsup und Amun lassen sich wohl noch am einfachsten miteinander identifizieren. Die Eigenschaften vieler anderer Gottheiten dagegen waren nicht immer eindeutig festzumachen, so dass sich zum Beispiel unterschiedliche "interpretationes" für den keltischen Esus als Mars und Mercur finden.
"Interpretatio" ist ein kulturell-religiöses Phänomen in der zunehmend vernetzten ("globalen") Gesellschaft der hellenistischen Welt und insbesondere des Römischen Reiches. Durch die verstärkte Interaktion, Kommunikation und Migration zwischen kulturell unterschiedlichen Regionen entstanden Kommunikationsformen, die in der gesamten Mittelmeerwelt verständlich wurden. Interpretatio ist aber keine oberflächliche Assoziation, wie die bloße Übersetzung eines indigenen Theonyms ins Lateinische oder Griechische. Vielmehr kann man profunde Veränderungen bezüglich des Verständnisses und der Funktionen von Gottheiten für die lokalen cultores erkennen. Langzeitentwicklungen müssen unbedingt berücksichtigt werden, denn die einmalige Übernahme von griechisch-römischen Götternamen und Darstellungsformen wird auf lange Sicht auch das Verständnis der lokalen Bevölkerung von einer Gottheit grundlegend ändern. Dieser Prozess führte dazu, dass neue Kulte entstehen, die sich wesentlich von den stadtrömischen/griechischen und vorrömisch/indigenen Kulten unterscheiden.
Eine wichtige Frage betrifft die Protagonisten in diesem Prozess. Tacitus und Caesar haben fremde Gottheiten einem römischen Publikum erklärt, aber die meisten interpretationes werden von der lokalen Bevölkerung geschaffen. Es handelt sich um eine indigene interpretatio, bei der lokale Götter mit griechisch-römischen Theonymen belegt und in Reliefs und Skulpturen als griechisch-römische Götter dargestellt werden. Erkennen wir hier den Einfluss der griechisch-römischen Bildung der lokalen Eliten auf die lokalen Kulte? Dabei stellt sich die Frage nach dem Rational hinter solchen Assoziationen: Wie kann man beispielsweise erklären, dass der indigene, chthonische Hammergott in Südgallien (Sucellos) ausgerechnet als römischer "Waldgott" Silvanus interpretiert wurde? So gilt also die Rolle und die Motivation des Individuums (social agent) wie gesellschaftlicher Gruppen in der indigenen Gesellschaft in diesem Prozess als Priester, Magistrate, Grundbesitzer und cultores herauszuarbeiten.
Ganz entscheidend für das Verständnis von interpretatio ist der Ost-West Vergleich. Schon früh, verstärkt seit der hellenistischen Epoche, erkennen wir vergleichbare Entwicklungen im östlichen Mittelmeerraum. Die "Hellenisierung" hatte nicht nur die Übernahme der griechischen paideia und Lebensweise zur Folge, sondern auch die Verbreitung der griechischen Sprache als Kommunikationsmittel. Diese Entwicklung erfasste auch den sakralen Bereich. Die große Zahl an Texten religiösen Inhaltes, die beispielsweise aus dem Binnenland Kleinasiens und den ländlichen Zentren des ptolemäischen und römischen Ägyptens stammen, vermittelt den Eindruck, dass sich die einheimischen Götter dieser Länder, in einigen Fällen auch durch die Übernahme hellenischer Theonyme, gräzisiert hatten und griechisch sprachen. Hinter Gottheiten, wie zum Beispiel Zeus Alsenos (Phrygien) oder Zeus Betylos (Dura-Europos), kann man indigene Gottheiten greifen, doch gilt es, die sich verändernden Eigenschaften und Funktionen einer solchen Gottheit aufzuspüren.
Eine nähere Betrachtung der epigraphischen Testimonia, die aufgrund der Verwendung gemeinsamer Ausdrücke und Formeln homogen erscheinen, offenbart grundlegende Differenzen und zugleich die Grenzen des Begriffes interpretatio. Denn, verbunden mit der neuen Sprache war häufig auch die Einführung der Schrift im religiösen Bereich, was zur Verschriftlichung der lokalen Religionsformen und Rituale führte. Dies hat unter anderem bedingt, dass Rituale und sakrale Vorstellungen, die in den lokalen Kontexten erst in der hellenistischen und römischen Epoche dokumentiert sind, als ein Ergebnis der "Hellenisierung" bzw. "Romanisierung" angesehen wurden. Eine kontextuelle Analyse zeigt jedoch den indigenen Ursprung vieler Kulte.
Die vielfältige epigraphische Dokumentation aus den ländlichen Heiligtümern Kleinasiens erweist sich reich an solchen Beispielen. So ist etwas das Ritual der öffentlichen Beichte im Tempel, das auch im Rahmen anderer Kulte (Isis, Dea Syria usw.) praktiziert und hier erst seit der Kaiserzeit auf Stein schriftlich niedergelegt wurde, als ein Ergebnis der "Romanisierung" wie auch des Kontaktes mit den christlichen Gemeinden betrachtet worden. Die hethitischen Texte dokumentieren jedoch das Vorhandensein dieser spezifischen Ritualform in diesen Regionen seit der Bronzezeit und liefern damit einen wichtigen Hinweis auf eine mögliche lokale Herkunft dieses Rituals, die genauer zu untersuchen ist.
Als weiteres Beispiel kann man die aus dem Heiligtum des Zeus Alsenos (Phrygien) stammenden Votivstelen betrachten. Die anatomischen Votivreliefs (Hände, Beine und Augen) und die Darstellungen von Ochsen und Pferden sowie von Familiengruppen verdeutlichen den allumfassenden Kompetenzbereich dieser allmächtigen Gottheit auf einer visuellen Ebene. Die Bildersprache (die Praxis der anatomischen Votivreliefs scheint von den Asklepieia übernommen worden zu sein), sowie die Verwendung von epitheta, die auch auf die Gottheiten der größeren Zentren bezogen werden, zeigen einen Einfluss des Zentrums auf die Peripherie. Bilder und Sprache sind also griechisch, nicht jedoch die Vorstellung und das Wesen dieses Gottes, denn sowohl seine starke Territorialität als auch seine Allmächtigkeit - welche mit griechischen Kommunikationsmitteln zur Sprache kommen - beruhen auf indigene Vorstellungen.
Tacitus' Begriff der interpretatio romana beschreibt die breite Identifikation von indigenen Gottheiten durch Griechen und Römer mit Gottheiten aus dem eigenen Pantheon. Die altertums- und religionswissenschaftliche Methodologie hat sich jedoch seit der Publikation der grundlegenden Schrift "Interpretatio Romana. Römische Götter im Barbarenlande" von Georg Wissowa aus dem Jahre 1916 kaum verändert. Die meisten Studien ignorieren nicht nur den archäologischen Befund, sondern auch grundlegende kulturelle Unterschiede und soziokulturellen Prozesse, welche die interpretatio erst möglich machen. Indigene Götter durch römische Theonyme auszudrücken ist für Bertrand Debatty sogar ein "processus de filiation bien documenté", den es nicht weiter zu untersuchen gilt (Debatty 2006, 173). Auch wenn man ein gewisses indigenes "Substrat" erkennt, wird die interpretatio romana durch römische Gottheiten häufig als gelungene "Romanisierung" und Merkmal einer römischen Identität gesehen (siehe Beiträge in Dondin-Payre / Raepsaet-Charlier 2006, dazu Rezension in Bonner Jahrbücher 208, 2008, 381-384 [Häussler]).
Vorhandene Einzelstudien zur interpretatio beziehen sich entweder auf einzelne Gottheiten, wie z.B. Hercules oder Jupiter, oder sind geographisch begrenzt: José d'Encarnação (1993) untersuchte beispielsweise anhand der interpretatio romana die religiöse "Akkulturation" in Lusitanien, Francisco Marco Simón (1998) in Spanien, Miranda Green (1983) in Britannien und Alain Cadotte (2007) in Nordafrika; zu Gallien sind die Studien von Benoit (1959) und Duval (1976) immer noch grundlegend. Für den Osten des römischen Reiches liegen aus den letzten Jahren ebenfalls Einzelstudien vor (z.B. Fergus Millar 1993 und Ted Kaizer 2002-2009 für den Nahen Osten; Gian Franco Chiai [v. infra] für Kleinasien). Ein unbedingtes Desiderat der Forschung bleibt eine systematische Untersuchung zur interpretatio graeca/indigena im griechischen Osten, insbesondere für die Kaiserzeit.
Zahlreiche neue Ansätze und Perspektiven in der interpretatio-Forschung im römischen Westen wurden in den letzten Jahren im Rahmen des internationalen F.E.R.C.AN. Projektes (Fontes Epigraphici Religionum Celticarum Antiquarum) angestoßen: Seit 1998 fanden mehrere Konferenzen statt, die sich mit der Entwicklung der Kulte und Theonyme beschäftigt haben. 2005 organisierten Ralph Häussler und Tony King eine dreitägige Konferenz in London zum Thema "Continuity and Innovation in Religion in the Roman West", auf der Fragen der Kultkontinuität und Aspekte der interpretatio indigena diskutiert wurden . Im Kontext des F.E.R.C.AN.-Projektes hat Manfred Hainzmann 2002 in Osnabrück die Rolle von Kultnamen und epitheta genauer betrachtet (Hainzmann 2005). Patrizia de Bernardo Stempel (2008) hat auf dem Londoner Workshop 2005 die "interpretationes" im römischen Westen in vier Untergruppen unterteilt: translatio latina / translatio celtica und identificatio romana / identificatio indigena bezeichnen die sprachliche Übersetzung von Götternamen (insbesondere auch vom Griechischen ins Keltische) bzw. die Identifikation von vermeintlich verwandten Götterkonzepten. Weitere Arbeiten hinterfragen bisherige Modelle einer fortschreitenden "Akkulturation" bzw. "Romanisierung" der Religion (Jane Webster 2001), revidieren grundlegend bestehende zur interpretatio romana (Clifford Ando 2005; 2006), während Tacitus' Konzept der interpretatio, insbesondere sein römischer Ethnozentrismus, kürzlich von Allan Lund (2007) untersucht wurde.
Trotz dieser vielen zumeist kleineren Einzelstudien fehlt es bislang an einer Gesamtdarstellung, die sowohl Italien und die Westprovinzen, als auch Griechenland, den Nahen Osten und Ägypten mit einbezieht und die kulturellen Unterschiede ebenso berücksichtigt wie kulturanthropologische und religionswissenschaftliche Modelle. Die geplante Osnabrücker Konferenz zielt daher auf eine grundlegende Neuorientierung unserer Methoden und Modelle bezüglich der Entwicklung der Kulte im Römischen Reich, indem auch Fälle und Beispiele aus anderen Bereichen der antiken Welt, wie z.B. Magna Graecia und das punische Sizilien, herangezogen werden, welche ein beachtenswertes Parallelmaterial liefern, das sich als nützlich erweist, das Phänomen der interpretatio in späteren Epochen besser verstehen zu lernen.
Geändert am 07.07.2010